Räume der Imagination
„Ich habe das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als mein Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese Räume nicht verbindet, sondern für sich als Fragment aufbewahrt ist. In dieser Weise ist in mir alles verstreut – die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde: alles das ist noch in mir und wird nie aufhören, in mir zu sein. Es ist als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen.“
(Rainer Maria Rilke: Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910).
Elisabeth Czihaks Arbeiten erzählen von der Transformation des scheinbar Konstanten, ebenso wie von der Dauer und dem Überdauern von architektonischen Körpern, Lebensspuren und Erinnerungen. In dem Bestreben, das Flüchtige, Versteckte und nicht mehr Vorhandene festzuhalten, liegt eines der übergreifenden Themen ihrer dokumentarischen Fotografien und der zumeist abstrakten Papier- und Wandzeichnungen. Mit diesen verschiedenen künstlerischen Mitteln lotet sie die räumlichen und zeitlichen Dimensionen ihrer Erfahrungs- und Erinnerungsräume aus, sei es dass sie mit der Kamera verlassene Wohnungen in Besitz nimmt oder die rasante Veränderlichkeit des urbanen Raums aufspürt, sei es dass sie sich mit ihren graphischen Setzungen in der Form ausfransender Flecken in die Ausstellungsräume einschreibt oder ihren linearen Wesen auf Papier einen eigenen Raum gibt.
In ihren Zeichnungen hat Czihak ein Repertoire filigraner, irregulärer Linienstrukturen entwickelt, die aus der Erfahrung abstrahiert und jenseits der konkreten gegenständlichen Bestimmung angesiedelt sind. Bereits in ihren älteren Wandzeichnungen war die Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Orten, das Zusammenspiel der fließend mäandernden Linien mit der Härte der spezifischen architektonischen Gegebenheiten und Situationen ausschlaggebend. In ihren jüngeren, seit 2012 entstandenen Papierzeichnungen entwickelt sie diesen Ansatz weiter und schlägt einen Weg zwischen abstrakter und figurativer Darstellung ein, indem sie die Linienstrukturen mit der Gegenständlichkeit verschiedener Architekturen kombiniert. Festmachen lässt sich dies unter anderem an den Zeichnungen der Serien „Looking for Rietveld“ und „Chata“. Die erste nimmt wie im Titel angedeutet Bezug auf vier von Gerrit Rietveld für die Werkbundsiedlung Wien entworfene Häuser und zeigt verschiedene Elemente wie Stiegenhäuser oder Fenstergestaltungen und Ansichten aus dem Inneren des Hauses. Bei der zweiten hingegen ist das titelgebende Motiv, eine Hütte mit Spitzgiebel, prototypisch für die Gegend von Krumau, wo sich Elisabeth Czihak zur Zeit der Entstehung dieser Zeichnungen im Rahmen eines Stipendiums aufhielt, könnte aber ebenso gut an jedem anderen Ort Mitteleuropas stehen. In beiden Serien setzt Czihak der Konturierung des Gegenstandes mit einer gleichmäßigen Linie aus schwarzer Tusche variantenreich verdichtete Strukturmuster entgegen. Während beispielsweise die Hütte in „Chata #2“ angefüllt ist mit einem kleinteiligen Innenleben aus sich überschneidenden Linien, deren dunkles Geflecht sich nur an einer Stelle auflöst, so dass es wie von einem geheimnisvollen weißen Nebel durchzogen zu werden scheint, ist das Blatt „Chata #5“ als eine Art Umkehrung dazu konzipiert. Hier steht die Hütte als weiße Aussparung vor einem bedrohlich massiven, am Rand in einzelne Striche ausfransenden Körper im Hintergrund. Die Umrisszeichnungen teilen die Blätter jeweils in zwei Räume, die durch die Grenze der Linie in eine unbezeichnete Seite und eine bezeichnete getrennt werden.
Die forcierte Reduktion auf den Kontrast zwischen Schwarz und Weiß, Fläche und Linie, Zufall und Gestaltung zeigt die charakteristischen Züge der zeichnerischen Formfindung Czihaks. Im wechselseitigen Bezug zwischen dem Festschreiben in der Form der Architekturen und dem Auflösungsprozess in den einzelnen Details der Liniengeflechte lotet sie die Grenzen zwischen dem Festen, Regelhaften und dem Irregulären, Flüchtigen aus. Während die Umrisslinien mit technischer Präzision der Absicht folgen, den Gegenstand zu erklären, verlieren die anderen Linien in den Flächen diese demonstrative Funktion. Sie nehmen nicht länger Bezug auf etwas, das dargestellt, buchstäblich umrissen wird, sondern machen stattdessen auf sich selbst und ihren Verlauf aufmerksam. Auffallend an dieser Verschiebung ist, dass sich die eigentliche Ausführung des Strichs nicht verändert. Statt mit dem Unfertigen, Kritzeleien oder gestischen Andeutungen zu spielen, lässt Czihak ihre Linien mit akribischer Obsession in gleich bleibender Stärke über die Fläche mäandern. Indem sie sich kontinuierlich fortschreiben, überkreuzen und zu Oberflächenstrukturen verdichten, verkörpern sie immer auch die langsam verstreichende Produktionszeit, die in der Spur der zeichnenden Bewegung eingefroren ist. Zeichnen offenbart sich hier als ein Prozess des Fortfahrens, Verharrens und Wiederkehrens an einen Ort; an den Ort, der konkret mit dem Stift auf dem Papier bezeichnet wird, ebenso wie an jenen Ort, der durch die linearen Verdichtungen als Erinnerung und als eine Art innerer Raum evoziert wird.
In seiner 1957 erschienen Schrift „Poetik des Raums“ hat der französische Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) untersucht, wie das Bild des Hauses zur Topographie unseres inneren Seins werden kann. Sein Text hat immer wieder KünstlerInnen inspiriert, sich mit der Kategorie Raum zu beschäftigen und bietet auch mit Blick auf die Arbeiten von Elisabeth Czihak eine fruchtbare Referenz. In einer Art Phänomenologie des Imaginären versucht Bachelard die Struktur von Tagträumen zu verstehen, indem er das Haus mit all seinen Winkeln und Verstecken als eines der „großen Integrationsmächte“ für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen vermisst. Die Übereinstimmung mit subjektiven Erfahrungen wertet er dabei für die Wahrnehmung von räumlichen Strukturen als wesentlich bedeutender als den Wirklichkeitsgehalt von architektonischen Konstruktionen oder von Beschreibungen eines Ereignisses. Träumen schreibt er in diesem Zusammenhang eine große poetische und die Zeit überdauernde Wirkkraft zu. Die Träumerei „genießt unmittelbar ihr eigenes Sein. Orte, wo man die Träumerei gelebt hat, entstehen aus sich selbst heraus wieder in einer neuen Träumerei. Und weil die Erinnerung an frühere Wohnungen wie Träumereien wiedererlebbar sind, darum sind die Wohnungen der Vergangenheit in uns unvergänglich.“
Die Arbeiten von Elisabeth Czihak machen sich diesen Umstand zunutze, insofern sich ihre Zeichnungen als Konzentration eines inneren Geschehens lesen lassen. In „Looking for Rietveld“ wird dieses Anliegen bereits im freien Kombinieren, Überlagern und Verfremden der architektonischen Elemente deutlich, das die dargestellten Räume rätselhaft wirken und teilweise ins Wanken geraten lässt. Noch mehr aber sorgt das wiederholt forcierte Aufeinandertreffen von archetypischen Architekturzeichnungen mit abstrakten Liniengeflechten für vielschichtige Überlagerung von realen Architekturen mit fiktionalen Räumen, die nicht betreten werden können, sondern im Modus von Erinnerungen, Sehnsüchten und Tagträumen Gestalt annehmen. Wie aber erschließen sich diese einzigartigen imaginierten Räume und subjektiven Erfahrungen für die BetrachterInnen der Zeichnungen? Die Momente der Bewegung und des Innehaltens, die räumliche und zeitliche Verknüpfung, die sich in der Produktion der Linien ausdrücken, finden ihre Fortsetzung, indem sie rezipiert werden. Den sich verdichtenden, dann wieder öffnenden Linienstrukturen haftet ähnlich wie Wolken oder Nebelschwaden etwas Fantastisches und Unheimliches an. Sie befördern die Einbildungskraft und lösen zahlreiche, mitunter auch widersprüchliche Assoziationen aus, die sich mit unserem ebenso ureigenen wie transsubjektiven Wissen über das Haus verknüpfen.
Annette Südbeck, 2014