Nomadische Spuren
Kleine, wilde, etwas scheue Wesen bevölkern weiße Flächen in der Kunst von Elisabeth Czihak. Unter dem Titel „creatures“ sind sie als Tusche- und Bleistiftzeichnungen auf Papier und Wand zu sehen. Czihak benötigt nur wenige Mittel wie eine Hand voll Blei- oder Tuschestifte, um die sie umgebende Welt aufzuspüren und sie künstlerisch zu interpretieren. Die Künstlerin reist also mit leichtem Gepäck. Ähnlich dem Philosophen, der nur seinen Kopf zum Denken braucht und jederzeit unbeschwert den Ort wechseln kann, ermöglicht das Medium Zeichnung mit seinen jederzeit verfügbaren Materialien Czihak die leichtfüßige und unmittelbare Umsetzung ihrer Weltsicht.
Seit Beginn der jahrtausendealten Geschichte der Zeichnung meint Zeichnen vor allem „Zeichen setzen“. Denkt man an die Höhlenzeichnungen des Paläolithikums vor 15.000 Jahren, in denen Tiere und Jäger zu sehen sind, so lässt sich in diesen Darstellungen schon damals ein Verorten des Menschen in seiner Umgebung feststellen. Welche religiösen und mythischen Vorstellungen die Zeichnungen auch beeinflusst haben mögen, in jedem Fall stellten sie einen Prozess dar, mit dem sich der Mensch seiner selbst in Zeit und Raum vergewisserte. Im Laufe der Zeit wurden dem Zeichnen veränderte Aufgaben zugewiesen. So diente es der Intellektualisierung der Welt wie etwa dem Ordnen des Bestehenden: Macht, Planung und Religion kamen nicht ohne zeichnerische Entwürfe aus. Auch in der Darstellung von Neuem, wie Erfindungen, Seefahrten, Entdeckungen oder Eroberungen bediente sich der Mensch der Skizze.
Neben dem ordnenden Prinzip diente Zeichnen aber auch dem feinsinnigen Erfassen der Welt, kurz: der Sublimierung der Dinge, die den Menschen umgaben. Es galt, die Wahrnehmung zu verfeinern und das Gesehene zu Papier zu bringen. Die Intention und das Wissen des Künstlers flossen in die Gestaltung einer Zeichnung ein, neue Techniken wurden berücksichtigt. Hier sei an den Satz Paul Klees erinnert, dass „Kunst niemals Sichtbares wiedergebe, sondern sichtbar mache.“
Was macht in diesem Sinne die Kunst von Elisabeth Czihak sichtbar? Wir sehen Liniengewirre, die sich verdichten. Strichknäuel, die aus einer größeren Entfernung betrachtet, ausgefranste Flecken ergeben, die in der Zusammenschau wiederum an kleine geographische Territorien erinnern. Landflecken, umgeben von Meeren, Küstenstreifen, unterbrochen von Buchten, Territorien, durchzogen von Flüssen. Landstücke, die sich scheinbar berühren und wieder abstoßen und die aus der Perspektive des Betrachters wie kleine Landmarken wirken, welche sich am Papier oder an der Wand verorten.
Oder handelt es sich bei den Wandzeichnungen um Lebewesen, schwarze, ihre Form verändernde Geschöpfe, die sich amöbenähnlich ihrer Umgebung anpassen und sich im Nu des Raums bemächtigen, die aus einer Ecke hervortreten und in Windeseile die Wand bevölkern?
In ihren Wandarbeiten hält die Künstlerin mit Hilfe ihrer Zeichenstifte Zwiesprache mit dem sie umgebenden Raum. Zwar respektiert sie die vorgefundenen örtlichen Gegebenheiten, doch ihre Linienknäuel unterwandern auf subtilste Art und Weise die kahlen Wände. Erst im Auftragen des Graphits auf die Wand erschließt sich Linie für Linie eine künstlerische Spur, die allmählich den gesamten Raum durchzieht. In diesem mehrtägigen Prozess entwirft sie ihr Kunstwerk. Ein Kunstwerk, das im wahrsten Sinn des Wortes als künstlerische Handschrift zu lesen ist.
Eine Handschrift, die nicht zuletzt auch in ihren Papierarbeiten zu sehen ist. Auch hier geht es um verdichtete Linien, um Eroberung eines Untergrunds durch Tuschezeichnungen, deren inhaltliche Aussage offen bleibt. Ihre Reduziertheit in Ausdruck, Form und Mittel erzeugt dabei eine karge rhythmische Poetik, welche die Ästhetik von Czihaks Werk ausmacht. Damit schafft die Künstlerin nicht nur originäre, selbständige Kunstwerke, sondern sie eröffnet dem Betrachter auch Gedankenräume, die zu schwingen beginnen.
Susanne Rohringer, 2006/07