Raumsehen
Die Künstlerin Elisabeth Czihak hat ihrer Ausstellung den Titel „Raumsehen" gegeben, ein sprechender Titel, der auf den ersten Blick auch bereits einiges über die Arbeiten verrät.
Doch die Sicht auf beziehungsweise in den Raum ist nur ein Teilaspekt – es geht wesentlich weiter als nur um das Sehen, es ist vielmehr ein Raum-Spüren, ein Raum-Fühlen und ein Sich-in-den-Raum-Eindenken, ein In-Besitznehmen des Raumes.
Jedoch bleiben die Bilder nicht auf der Ebene des Raumes, der Örtlichkeit, nicht bei den Zimmern in einem aufgelassenen Einfamilienhaus, nicht bei der eben erst verlassenen Gemeindebauwohnung oder bei dem leer stehenden Areal an der Bundesstraße 17.
Der Gedanke kreist vielmehr um das nicht mehr Vorhandene, das jetzt nicht mehr beziehungsweise kaum mehr Sichtbare. Neben dieser räumlichen Ebene spielt in den Fotoarbeiten Elisabeth Czihaks vor allem die zeitliche Ebene eine wesentliche Rolle, wobei das „Davor" mit zentrales Thema ist.
Die Räume zeigen Spuren der Menschen, die in ihnen gelebt haben. Es sind keine flüchtigen Eindrücke, keine Momentaufnahmen, sondern die hinterlassenen Spuren implizieren einen längeren Zeitraum. Diese Spuren, diese Abbildungen von jetzt nicht mehr Gegenwärtigem – sie gewähren uns Einblick in das frühere Leben der Bewohner. Fast fühlt man sich wie ein Voyeur, wenn man wie bei einem der Bilder aus der Serie The Mystery of Being aus dem Jahr 2010 versucht herauszubekommen, in welcher Art Raum man sich befindet – war es das Wohnzimmer oder doch das Esszimmer? Und was sind das für Formen an der Wand – waren hier Bilder oder alte Backformen aufgehängt? Automatisch inspiziert man den Raum weiter und plötzlich kann man den runden Teppich erkennen, der hier einmal lag, den Umriss einer Anrichte oder Kommode ausmachen und die Form des kleinen Oberschranks in der Ecke erahnen.
Parallel zu den fotografischen Arbeiten beschäftigt sich Elisabeth Czihak auch mit der Zeichnung. Wer diese graphischen Werke kennt, wird sich bei der Außenansicht des Hauses aus der Serie The Mystery of Being stark daran erinnert fühlen. Die Spuren – also Spuren nicht nur im Innen-, sondern auch im Außenraum – diese Spuren des ehemaligen pflanzlichen Bewuchses des Hauses weisen starke Parallelen zu den teils raumgreifenden Wandbildern der Künstlerin auf. In diesen graphischen Arbeiten erobern feine Liniengespinste und Linienknäuel den Raum, überwuchern und ergreifen diesen – ähnlich dem Efeu (und wieder ergänzt unsere Phantasie das nicht Vorhandene), der sich ursprünglich an dieser Hauswand hochrankte.
Die dokumentarisch anmutenden Fotoarbeiten weisen einen sehr strengen Aufbau auf, hier ist nichts verspielt, nichts beschönigt oder verfälscht das Vorgefundene. Elisabeth Czihak bezeichnet ihre Arbeit selbst als eine Art „zeitgenössische Archäologie": Sie dokumentiert und porträtiert verlassene Orte, ohne jemals selbst in irgendeiner Weise in den Raum einzugreifen. Es sind die unveränderten Raumsituationen, diese eingefrorene Zeit, die ihr Interesse wecken. Die teils großformatigen Fotografien zeichnen sich dabei durch eine sehr klare Bildsprache aus und vermitteln dem Betrachter zugleich das Interesse der Künstlerin an geometrischen Formen.
Die vielleicht radikalste Ausformung ihrer „Raumdokumentationen" findet sich in dem Bild Nostalgia, einer Arbeit aus der jüngsten Fotoserie, die erst heuer in einem Wiener Gemeindebau im 12. Bezirk kurz vor dem Abriss des Gebäudes entstand. Wie in keinem anderen Foto wird der Betrachter hier durch den frontalen Blick der Fotografin auf die Rückwand des Zimmers in einen Raum „gestellt", aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Entgegen vieler anderer Arbeiten von Elisabeth Czihak, die Räume anschneiden, wo es Türen oder teils Fenster, also eine Öffnung nach Außen gibt und wo uns durch den schrägen Blick eine gewisse Weite vermittelt wird, sind wir hier ausschließlich mit der grünen, stark gemusterten Tapete und der leinwandartigen weißen Fläche im Zentrum des Bildes konfrontiert. Alles ist statisch und eng, der Blick ist leicht aus der Achse gedreht – die Begrenzungen werden deutlich und beinahe körperlich spürbar. Durch den perspektivischen Blick, der uns Decke, Boden und Wände zeigt, wird ein unmittelbares Raumerlebnis erzielt. Und wieder sind es die in den Fotografien dokumentierten Spuren, die unsere Phantasie beflügeln und jeden Einzelnen zur ganz persönlichen, individuellen Verräumlichung der auf Umrisse reduzierten Einrichtungsgegenstände herausfordern.
Einen ganz anderen Eindruck vermittelt aufs Erste die großformatige Fotografie in der Raumecke, die letztes Jahr während eines Stipendiums in Krumau entstanden ist. Doch was die Krumauer Arbeit mit den Bildern der zuvor angesprochenen Serien verbindet, ist dieses starke Gefühl von Atmosphäre, welches Elisabeth Czihak in beinahe all ihren Arbeiten zu vermitteln vermag. Auch wenn die Arbeit vorerst völlig konträr erscheint, ist es doch wieder das Rätselhafte des Gesehenen, das die Künstlerin fasziniert. Gleich ob bei Städten, Wohnhäusern oder Innenräumen steht auch hier im barocken Schlosstheater von Český Krumlov aus dem 17.Jahrhundert nicht das Offensichtliche und das für jedermann Zugängliche im Mittelpunkt, wie es etwa ein Blick aus dem Zuschauerraum Richtung Bühne wäre, sondern wieder wird das Augenmerk auf das Verborgene und das Dahinter gelenkt. Der Blick auf die Rückseite der Theaterkulissen eröffnet viele offene Fragen, zugleich lässt die Fotografie das Interesse an der Verschachtelung und Verunklärung, das Interesse am Spiel mit verschiedenen Raumebenen und der Durchdringung derselben erkennen.
Elisabeth Czihak, die an der Kunstuniversität Linz und der Universität der Künste in Berlin studiert hat und ursprünglich im Bereich der Bildhauerei und Keramik gearbeitet hat, spürt seit vielen Jahren in ihren Fotoarbeiten verlassenen Orten nach und setzt sich dabei gleichzeitig mit dem Thema Aneignung auseinander. Im Rahmen ihres Krumau-Stipendiums vergangenen Jahres, bei dem auch die eben erwähnte Arbeit im Barocktheater entstand, recherchierte sie in den Archiven vor Ort über die lokale Industriegeschichte und es entstand eine neue Fotoserie zu den verlassenen und teils neuangeeigneten Fabriksbauten und Industriearealen rund um die Stadt. Man kann also schon jetzt gespannt sein, für welche verborgenen Seiten dieser alten Industrieanlagen Elisabeth Czihak uns die Augen öffnen wird!
Anna Stuhlpfarrer, 2013