Nichts inmitten der Bilder¹
Räume, in denen die Zeit scheinbar stehen geblieben ist. Fotografien, die im Mai 2008 aufgenommen wurden, zeigen das Innere eines Wiener Alters- und Pflegeheims. Dessen Bewohner waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit langem in einen neuen, den gegenwärtigen Standards entsprechenden Bau umgesiedelt worden. Elisabeth Czihak entdeckte mit einer analogen Kamera die Räume des großen Wohnblocks, dessen Gebäudeteile seit Jahrzehnten verschiedentlich aus- und umgebaut wurden und dessen Zukunft ungewiss ist. Der Bau dämmert, streng verschlossen, in einem Zwischenzustand dahin, gelegentlich wird sein Schlaf von einem Haustechniker überwacht. Die Fotografin begibt sich auf Spurensuche: Was bleibt zurück in Räumen, in denen Menschen ihre letzten Tage verbringen? Was ist ablesbar an diesen Orten, die bereits in bewohntem Zustand Zwischenräume darstellen, zwischen gesellschaftlicher Teilhabe und Abschiebung, an den Bruchstellen, die Leben und Tod miteinander verzahnen.
Eine der Hauptcharakteristika der Fotografie, das Bewegte still zu stellen, im Bild einzufrieren, wird in diesen Aufnahmen gedoppelt. Denn die abgelichtete Welt ist selbst unbeweglich, seit über einem Jahr. Außer vielleicht der sich lautlos ausbreitende Schimmel, die langsam verwesende Pflanze, das sachte Ausbleichen des Materiellen. Das Interesse an der skulpturalen Qualität der Dinge ist Basis des Schaffens von Elisabeth Czihak. Architektonische Strukturen und die Abstraktion von gegenständlichen Formen sind Ausgangspunkte und Konstanten, denen sie in verschiedenen Medien, der Plastik, der Zeichnung, dem Siebdruck und der Fotografie nachgeht. Ihre fotografischen Serien sind dokumentarisch angelegt, sie beschränkt sich auf das Ablichten von Orten, ohne arrangierend oder inszenierend einzugreifen. Stets sind es Tatorte ohne Täter, die sie aufsucht. Menschenleere Räume, in denen die Anwesenheit von Personen durch Relikte und Spuren des dort gelebten Lebens ersetzt werden. Insbesondere bei Roland Barthes und bei Phillippe Dubois wird die Charakterisierung der Fotografie als Spur zum Ausgangspunkt einer ganzen Fotografietheorie. Einerseits bezeugt die Fotografie das „Es ist so gewesen“, andererseits lenkt sie die Aufmerksamkeit auf Indizien, die bis dahin nicht augenfällig waren.
Den Dokumentationen Elisabeth Czihaks wird etwas Erzählerisches verliehen, auch aufgrund der Großformatigkeit kann der Betrachter in die fotografische Welt eintauchen. Insofern die Fotografien dabei nicht durch weitere Informationen an Entstehungsorte oder Funktionen gebunden sind, wird die Phantasie der Betrachter eingefordert, steigen beim Durchwandern der Bildräume Geschichte und Geschichten auf, sie nehmen Teil an einer Rekonstruktion. Was verbargen die altrosa Vorhänge? Was blieb in den Schränken zurück und wieso? Diese Rekonstruktionen sind jedoch immer abhängig von den durch die Fotografin einsehbar gemachten Raumausschnitten und den Differenzen zwischen den Bildern, die so zum Sprechen gebracht werden. Das sich ändernde Licht ist Protagonist in diesem stummen Kosmos. Fenster sind entscheidende Elemente der Bildkomposition, die auf ein lichtes Draußen, auf das „Andere“ im Fensterrahmen verweisen. Eine Verschränkung von unterschiedlichen Ebenen des Realen und seiner Wahrnehmung in der Zeit und im Raum findet statt. Die Fotografien verweisen so in sich auf ihr Wesen als Projektionsträger. Helligkeit dringt von außen herein durch verschieden geriffelte Scheiben, taucht die Schrankreihen in warmes Tageslicht, wird vielfach gebrochen und spiegelt sich wieder auf verschiedenen Oberflächen wie dem glatt polierten Boden. Der Boden nimmt oft großen Raum ein, ist selbst die Bühne, auf der sich mal das herausgerissene Innere eines Blumentopfs ausbreitet, mal ist er von Gipsresten überzogen wie Puder oder Schnee, der das Gewesene im Lauf der Zeit zudeckt. Ähnlich ihren Zeichnungen sind die Bildflächen der Fotografien Elisabeth Czihaks von Kontrasten bestimmt: weite, einheitlich ruhige Farbfelder stehen kleinteiligen, oft rhythmisch strukturierten Zonen gegenüber.
Die Anonymität der gezeigten Lebensräume wirkt verstärkt aufgrund der kaum individuellen Gestaltung durch seine Bewohner – anders als beispielsweise die verlassenen Wohnungen vom Harter Plateau in Elisabeth Czihaks in Kooperation mit Walter Ebenhofer knapp sechs Jahre früher entstandener Fotoserie. Doch die Bilder des Wiener Pflegeheims sind nicht trostlos. Es sind keine Orte des Schreckens oder anklagende Bestandsaufnahmen, sondern fotografische Räume heller Stille mit spielerischen Titeln wie „Indischgelb“, „Bergahorn“ oder „Altrosa“. Die Dinge, Relikte, scheinen mit sich allein gelassen, ihrer Nutzungsvorgaben enthoben, als Wesen mit eigenständigen Formen und Strukturen hervorzutreten. Die Vorhänge werden mit Theatralität aufgeladen, der zerschellte Blumentopf mit Symbolik, die offenen und geschlossenen Schranktüren entwickeln in der Bildkomposition einen eigenen Rhythmus, der in ihrem früheren funktionalen Leben ungesehen blieb. Das Oszillieren zwischen ehemaliger Zweckgebundenheit und gegenwärtiger Eigenständigkeit im Bild macht diese Fotografien so faszinierend und leichter als das, was sie tatsächlich zeigen.
Die behutsame Loslösung von Funktionalität, durch die die Räume frei werden für die Geschichten, die Projektionen der Betrachter, verleiht den Stilleben eine melancholische Poesie. In dieser kommt vielleicht die „symbolische Leere“² der Fotografie selbst zum Vorschein, deren Räume eine „Spur, die das Verschwinden des gesamten Restes hinterlassen hat“³ durchzieht, ein „Nichts inmitten der Bilder“⁴.
¹ Jean Baudrillard: Paroxysmus, Wien 2002, S. 139
² ebd.
³ Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen, München 1996, S. 135 f.
⁴ ebd.
Stefanie Hoch, 2009