Leerstände
Einführung zur Ausstellung "Leerstände", einem Fotoprojekt von Elisabeth Czihak und Walter Ebenhofer, in der Galerie des Oberösterreichischen Kunstvereins, Linz am 19. Februar 2003
Die Fotografie ist mit einem Makel behaftet, gegen den sie sich seit ihrer Erfindung wehrt. Es ist ihr nicht möglich, Bewegung darzustellen – weder Veränderungen im Raum noch die Progression in der Zeit. Das einzelne Bild hält alles, was sich vor dem Objektiv befindet, fest – im wörtlichen Sinn: Die Dinge werden in einen Zustand der Starrheit versetzt. Dies geschieht im Bruchteil eines Augenblicks, der so kurz ist, dass niemand ihn jemals bewusst erlebt hat: Er ist nämlich bereits vorbei, wenn sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtet. Die Fotografie liefert also Bilder des Unwirklichen, einer Welt des Stillstands, die es in der Wirklichkeit nicht gibt.
Nun haben die Lichtbildner eine Reihe von Möglichkeiten ersonnen, dem Medium gleichsam die Wirklichkeit zurück zu erstatten, ihm jedenfalls größere Nähe zum Realen zu verleihen. Denn das Reale ist gleichermaßen Vorbild wie Thema der Fotografie. Es galt, also, die Ansichten von der kalten Starre zu befreien, Bewegung ins Bild zu bringen, und man erkannte, dass mehr als eine Aufnahme benötigt wird, um mehr als einen Zustand darzustellen. Denn nur die Differenz zwischen zwei (oder mehr) Bildern – sprich: Wiedergaben von Zuständen – lässt den Vollzug der Zeit erkennen – sei es in der Doppelbelichtung, einer Fotomontage, in Serien oder Sequenzen.
Allerdings bieten sich mehrere Wege und Modelle an, um die Prozesse der Wirklichkeit zu ergründen und zu vermitteln. Der Künstler richtet die Kamera auf unterschiedliche Erscheinungen, um seinem Publikum etwas zu erzählen. Er nutzt das narrative Potential der Fotografie, indem er Bilder entwirft, deren Verflechtung und Überlagerung in unseren Köpfen eine neue Bildwelt entstehen lässt. Wogegen der Wissenschaftler die empirischen Möglichkeiten des Mediums nutzt und mittels der fotografischen Aufzeichnungen registriert, vermisst, sammelt und archiviert.
Doch schließt das eine Vorgehen das andere nicht aus. Das Fotoprojekt, von dem hier die Rede ist, liefert den schlagenden Beweis. Elisabeth Czihak und Walter Ebenhofer erzählen uns von den Wünschen der Menschen, ihr Dasein zu gestalten. Sie verlangen von uns aber zugleich, uns selbst ein Bild zu machen. Wenn sie die verlassenen Wohnungen bildlich festhalten, uns also die Relikte eines Lebensabschnittes vorsetzen, ist unsere Fantasie gefordert, aus diesen Resten das zu rekonstruieren, was einmal gewesen ist. Der Betrachter der Aufnahmen ist in die Erzählung eingebunden, er steht inmitten der Räume, von denen berichtet wird. Er hat sich wie ein Architekt zu verhalten, der aus den Ruinen das ehemalige Original entwirft.
Czihak und Ebenhofer gehen aber auch wissenschaftlich vor: sie dokumentieren, zählen auf, verweisen auf Unterschiede. Der immer gleiche Aufnahmestandpunkt ermöglicht erst Vergleiche, die immer gleiche Distanz erlaubt eine distanzierte Sicht. Der monotone Blick auf dieselben Fronten und Ecken bedeutet nicht nur, denselben Maßstab anzulegen, sondern entspricht auch der Uniformität der je 240 Wohnungen in den beiden Gebäuden am Harterplateau.
In der stereotypen Inszenierung treten jedoch die Anstrengungen der Bewohner, ihre Umgebung individuell zu gestalten, umso deutlicher hervor. Als ginge es darum, dass keine Tapete einer anderen gleiche, kein Arrangement der Verfliesung sich wiederhole, jeder Bodenbelag ein anderes Muster aufzuweisen habe, kein Farbton mehr als einmal vorkomme.
Man ist versucht zu sagen: In den Bemühungen, es anders zu machen, zeigt sich die Konformität der Ausstattungen. Alle haben sich den Vorgaben der Architektur untergeordnet: Man gehorcht in der Anbringung der subjektiv ausgewählten und als individuell verstandenen Merkmale geradezu ergeben der Geometrie der Räume: Kanten werden nicht überschritten – mit einer Ausnahme, wie ich vor wenigen Wochen feststellen konnte – , die Böden haben ihre speziellen Musterungen wie auch die Wände, die Wandfliesen gehorchen der Ökonomie der installierten Geräte.
Gleichwohl, keine Wohnung gleicht der anderen, und die verlassenen Räumlichkeiten künden sehr wohl davon, dass in ihnen eine ganz bestimmte Person da gewesen ist bzw. mehrere Personen miteinander gelebt haben. Denn sie haben Spuren hinterlassen, Spuren ihrer Anwesenheit. Die hinterlassenen Flächen stellen gleichsam das Negativ des Daseins dar, das zwischen ihnen stattgefunden hat. Wie die Fotografie, die ja auch immer nur etwas zeigen kann, das gewesen ist, indem es als Negativ aufgezeichnet und ins Positive gewendet wird. Die Bilder dieses Projektes, das hier vorgestellt wird, ergeben – insgesamt betrachtet – eine Art Museum der Spuren, und zwar im doppelten Sinn, denn sie bilden – gemessen an der Realität der Wohnungen – selbst nur eine solchartige Hinterlassenschaft. Diese mehrfache Brechung ist ohnehin die dominante Komponente der Fotografien und ihrer Präsentation. Dazu gehört auch – was ich schon erwähnt habe – dass Elisabeth Czihak und Walter Ebenhofer ebenso künstlerisch wie wissenschaftlich agieren. Zudem arrangieren sie die Exponate nicht in der geläufigen Form von Tableaus. Als ob der Betrachter mit den unregelmäßigen Anordnungen aufgemuntert werden soll, sich von den eigenen, eingefahrenen Blickwinkeln zu lösen und anders zu schauen.
Vor allem aber in den Bildern findet sich eine Fortsetzung der Verschränkung bzw. Überlagerung unterschiedlicher Ebenen des Realen und seiner Wahrnehmung. Offenkundig ist die gleichzeitige Präsenz von Innen und Außen, der Blick auf das Interieur und zugleich fort von diesem, ein Blick, in dem die Ängste des Eingesperrtseins ebenso zu erkennen sind wie die Sehnsüchte, sich von den Konventionen des Alltags und der Gesellschaft zu lösen. Aber dieser Blick wird zurückgeworfen auf ein Jetzt, das zwischen der Vergangenheit der Bewohner und der Gegenwart unserer Betrachtung liegt: es ist das Jetzt des Fotografen, der Augenblick der Aufnahme, der sich als Lichtspur in den Fenstern spiegelt – ein Reflex des Blitzlichts. So treffen sich gewissermaßen mehrere Wirklichkeiten in diesen Bildern, deren Motive in jenes unnatürliche Fluidum von Licht und Farben getaucht sind, das ihre Unwirklichkeit zum Ausdruck bringt.
Doch liegt nicht gerade darin das Faszinosum des Fotografischen, dass es alles als wirklich erscheinen lässt, so wenig die Motive mit der Realität übereinstimmen? Die Spiegelungen in den Fenstern sind Erscheinungen, die niemals jemand gesehen hat, nicht einmal der Fotograf, weil keiner dem Tempo des Blitzlichts zu folgen vermag. Die Fotografie hat eine ihrer konstitutiven Voraussetzungen – das Licht – sichtbar gemacht, sie hat einen winzigen, nicht zu erfassenden Moment verewigt, sozusagen sich selbst ins Bild gebracht, was uns jedoch als ganz natürlich erscheint. Achten Sie auf diese Lichtspur, die der Erzählung von vergangenem Leben in diesen Wohnungen etwas geradezu Märchenhaftes hinzufügt – wie das so üblich ist bei guten Geschichten. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!
Timm Starl, 2003