Under Construction
Elisabeth Czihaks Momentaufnahmen des Veränderlichen
Versucht man, Urbanität zu definieren, so ist eine ihrer entscheidenden Merkmale die Transformation. Der Zustand des Städtischen ist seine Transformierbarkeit. Die Geschichte der Stadt legt Zeugnis davon ab, daß Städte unter Veränderungsdruck stehen, daß Städte sich verändern müssen, um durch Produktion der immer wieder neuen Stadt in der bestehenden die Transformationsenergie als urbane Dynamik am Laufen zu halten.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind es die chinesischen Städte, die den Takt angeben, was die Urbanisierungsgeschwindigkeit anbelangt. Wir können chinesische Städte als ebenso sensible wie präzise Seismographen eines ungeahnten Ausmaßes von Akzeleration dieser Urbanisierungsgeschwindigkeit begreifen, die uns eindringlich vor Augen führt, wie das Bild der Stadt in Veränderung gerät.
Diese Geschwindigkeit der urbanen Veränderung, der Umbau auf Dauer, ist eine Herausforderung, der sich Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner stellen müssen. Der Umbau der Stadt führt zu Neuorientierungen, Anpassungen und Transformationen, die das Leben der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner zentral mitbestimmt.
Diese Geschwindigkeit der urbanen Veränderung ist aber auch eine Herausforderung, der sich die Dokumentation der Geschichte der Gegenwart der Stadt stellen muss. Das Bild der Stadt verschwindet in jedem Moment des Umbaus. Stadt in Veränderung entzieht sich der Dokumentation. Sie zerfällt in Momente und Fragmente, sie entwirft kein zusammenhängendes, geschlossenes, vollendetes Bild von sich selbst. Das Bild der Stadt im Umbau hat kein Stadtbild.
In diese komplexen Momente und Fragmente, die die unzählbaren Bilder einer Stadt im Umbau ausmachen, führen Elisabeth Czihaks fotografische Dokumentationen des Veränderlichen. Wir begreifen, dass wir uns im Städtischen bewegen, wir sehen Fragmente der Urbanität, aber wir können das Stadtbild nicht erkennen. Wir sehen das Erdreich in Bewegung, wir sehen abgedeckte Pflanzen, wir sehen gebrochenen Beton, wir sehen traditionell anmutende Malerei umgeben von informell aufgestapelten Steinen, wir sehen Kräne, wir sehen Baumaterialien, wir sehen den Kontrast zwischen dem, was war, und dem, was eben fertig gestellt wurde, wir sehen eine Erinnerung an den Alltag, wir sehen, wie schwierig es geworden ist, sich ein Bild der Urbanisierungsgeschwindigkeit zu machen. Wir erkennen, dass es viele solcher Bilder bedarf, um die Zersplitterung und Fragmentarisierung, die die Urbanisierungsgeschwindigkeit für das Stadtbild bedeutet, zu erahnen.
Das Gebaute und das Veränderliche sind durch eine Beziehung miteinander verbunden, die kulturell und sozial durch Ambiguität gekennzeichnet ist. Diese Beziehung ist erfüllt von Erwartungshaltungen und Versprechen einer besseren Zukunft, von Konflikten und Widersprüchen, von Ängsten und Geschichtsverlust.
Denken wir über die Beziehung zwischen dem Gebauten und der Veränderbarkeit nach und eröffnen uns diese Beziehung als einen Vorstellungsraum, so ist es genau jener Raum, in dem sich die Momentaufnahmen von Elisabeth Czihak ereignen. Eine der entscheidenden Fragen, die dieser Vorstellungsraum eröffnet, ist die der Zeitlichkeit. Wie sind das Gebaute und das Veränderliche beide als Zustände mit unterschiedlichen Zeitlichkeiten, mit unterschiedlichen Ansprüchen an Zeitlichkeit und an Dauer zu denken? Wie können wir uns Vorstellungen machen von diesen komplexen Verhältnissen, zwischen dem Gebauten und dem Veränderlichen in ihrer je eigenen, je spezifischen Zeitlichkeit? Zu den fotografischen Momenten und Fragmenten, die Elisabeth Czihak erzeugt hat, um die Zeitlichkeit in den Beziehungen zwischen dem Gebauten und der Veränderbarkeit zu verdeutlichen, hat sie die Grafik einer endlosen Linie gesetzt. Diese referiert auf ein Ornament aus dem traditionellen chinesischen Formenkanon und wurde in der Architektur eingesetzt, um Übergänge zwischen dem Drinnen und dem Draußen zu markieren. Dieses traditionell an Fenstern und an Türen aufzufindende Ornament, immer geschlossen, immer symmetrisch, bricht Elisabeth Czihak auf. Die Linie, geborgen aus der Historie des Ornaments, geborgen aus der Tradition der chinesischen Architektur, ist in Umbruch geraten. Sie ist verschoben, nicht mehr geschlossen, verzeitlicht, transformiert.
Elke Krasny, 2011